Erinnerungsweg Gleis1

Eröffnung des Erinnerungswegs Gleis 1 mit der Vernissage des „SchriftZugs“

Am 18.7.2025 wurde bei sehr zahlreicher Beteiligung der Erinnerungsweg Gleis 1 vom Anhalter Bahnhof durch den Park am Gleisdreieck bis zum Erinnerungsort im Möckernkiez (also dem Ensemble aus historischem Weichenbock und Forum, in dem die Veranstaltungen stattfinden) eröffnet.

Vom Gleis 1 im Anhalter Bahnhof starteten regelmäßig die Morgenzüge nach Dresden, die neben Geschäfts- und Urlaubsreisenden von 1942 bis 1945 mindestens 9600 Berliner Jüdinnen und Juden  in sogenannten „Alterstransporten“, angehängt  an den normalen öffentlichen Frühzug, nach Dresden und von Dresden weiter in anderen Zügen in das Ghettolager Theresienstadt deportierten. Wer von ihnen nicht in Theresienstadt starb, wurde meist weiter in die Vernichtungslager verschleppt.

Der Erinnerungsweg Gleis 1 wurde eröffnet mit der Vernissage des Werks „SchriftZug“ von Christine Berndt auf den Gleisen im Unterholz.

Erich Fried hatte sich kritisch zu Denkmalen in Deutschland geäußert. In Deutschland würde diskutiert, solange ein Denkmal noch nicht errichtet sei; wenn das Denkmal stünde, höre das  Denken auf und die Gedenkfeiern begännen. Der Erinnerungsweg vom Anhalter Bahnhof zum Weichenbock im Möckernkiez soll genau das verhindern durch Veranstaltungen und Diskussionen, die das ganze Jahr über an diesem Erinnerungsweg stattfinden, sowie mit Führungen und Erläuterungen zum historischen Kontext per QR-Code.

Der „SchriftZug“ von Christine Berndt ist kein Denkmal, das offene Fragen zudeckt.  

Das Werk hat selbst eine Geschichte. 2012 wurde es mit 10 anderen Kunstwerken in der Brache des Gleisdreiecks ausgeführt, von der Michael Sontheimer in der ZEIT schrieb: „Die Gewalt, die von diesem Grund ausging, ist schließlich auf ihn selbst zurückgeschlagen“. Für ihn gibt es „keinen Ort in Deutschland, auf dem so bleiern nationale Symbolik lastet wie auf der Brache rund um den Potsdamer Platz“.

Christine Berndts Werk war 2012 das einzige, das die Deportation nach Theresienstadt vom Anhalter    Bahnhof aus zum Thema nahm. Sie collagierte Zeilen der Dichtungen von Rose Ausländer aus   „meine Toten schweigen tief“, von Jakob van Hoddis aus „Todesengel“, von Herta Müller aus der „Atemschaukel“. Was aus den Collagen herauskam, war das Gedicht der Dichterin und bildenden Künstlerin Christine Berndt. das jetzt zu sehen ist:

  • Ich weiß Du kommst wieder (Herta Müller aus: Atemschaukel)
  • Der Engel schweigt (Jakob van Hoddis aus: Todesengel IV)
  • die Lüfte ziehn wie krank (Jakob van Hoddis aus: Todesengel IV)
  • und sangen (Rose Ausländer „vor den Garben“ aus: meine Toten schweigen tief)
  • Wangen margeritenweiß (Rose Ausländer „ich habe noch nicht aufgehört zu sterben“ aus: meine Toten schweigen tief )
  • ein Todesgebet (Rose Ausländer „vor den Garben“ aus: meine Toten schweigen tief)
  • die Eisenbahnen fallen (Jakob van Hoddis aus: Weltende)
  • Mondlied trifft mein Herz (Rose Ausländer „Sternsturz“ aus: der Traum lebt mein Leben zu Ende)
  • mein Heimweh ist ein Stacheltier (Rose Ausländer „mein Heimweh“ aus: meine Toten schweigen tief)

 Seit 2012 hat sich für die Künstlerin die Bedeutung der Worte geändert. Die Eingangszeilen „Ich weiß,  du kommst wieder“ aus der „Atemschaukel“ der Nobelpreisträgerin Herta Müller hat für Christine  Berndt drei Male eine neue Bedeutung gewonnen. „Ursprünglich mag dieser Satz Trost und Hoffnung ausdrücken, doch für die Opfer des Holocausts gab es keine solche Gewissheit – sie ahnten, dass sie nicht zurückkehren würden“.  2025 erinnert Herta Müllers Satz die Künstlerin Christine Berndt „mit seiner Mehrdeutigkeit dann an die wiederkehrenden Bedrohungen durch Nationalismus und die Wiederkehr rechtsextremer Ideologien“.  „‚Ich weiß, Du kommst wieder‘ mit der Antwort ‚Der Engel schweigt‘ wird so zur Mahnung an die Gegenwart und eröffnet den SchriftZug.

Das Werk „SchriftZug“ bildet mit dem Unterholz und den Schotterflächen eine Einheit. Wir fanden nicht heraus, warum der Gleisdreieckpark statt Liegewiesen all die geschützten Schotterflächen, geschützten Unterhölzer und Gleise erhält. Aber durch das Ensemble des SchriftZugs auf den Gleisen im Unterholz wird ein weiterer Sinn dafür klar: Der Gleisdreieckpark sieht auch deshalb so aus, wie er aussieht, weil er an das Gleis 1 vom Anhalter Bahnhof erinnern soll.   

Der „SchriftZug“ von Christine Berndt ist aber nicht einfach eine moralische These. Wie Adorno in der Ästhetischen Theorie (1973, S. 344, S. 359) schrieb „…nicht die Verkündung moralischer Thesen …  ist ihre [der Kunst] Teilhabe an der Moral“ Für moralische Thesen sind in der Tat Abhandlungen präziser geeignet als Kunstwerke: „Der Prozess, den ein jedes Kunstwerk in sich vollzieht, wirkt als Modell möglicher Praxis, in der so etwas wie ein Gesamtsubjekt sich konstituiert, in die Gesellschaft zurück“.

Zur Eröffnung spielte Helmut Buck an den Gleisen die Sarabande aus der 5. Suite für Cello Solo von Johann Sebastian Bach.

Nach der Eröffnung erörterten die Dichterin Herta Müller, die Direktorin des Exil Museums Ruth Ur, Frau Richter vom Personalrat und Direktor Breuninger vom Technik Museums, Susanne Kill, Historikerin bei der Deutschen Bahn, und die Künstlerin Christine Berndt mit den zahlreichen Gekommenen an den Gleisen den „SchriftZug“ und setzten das Gespräch, nachdem sie den Erinnerungsweg bis zum Erinnerungsort im Möckernkiez gegangen waren, im Möca auf dem Kiezplatz fort.

DerBundespräsident dankt dem Möckernkiez e.V. und der Genossenschaft für „nachbarschaftliches Engagement vor Ort im Bereich der Erinnerung an die nationalsozialistische Gewaltherrschaft“. Auf den ersten Blick hat eine inklusive selbstverwaltete Wohngenossenschaft womöglich noch andere Aufgaben. Aber auf den zweiten Blick hat der Bundespräsident sicher recht. Es gäbe heute an diesem Ort keine Inklusion und Vielfältigkeit betonende soziale Wohngenossenschaft ohne die schreckliche Geschichte dieses Ortes. Die Erinnerung geht immer in die Zukunft ein.

Johann Behrens, Haus 12