Im Umfeld unserer Möckernkiez-Genossenschaft lebten in früheren Zeiten namhafte Persönlichkeiten, an die erinnert werden sollte. Zu ihnen gehört die Politikerin und Frauenrechtlerin Marie Juchacz.
Marie Juchacz wurde 1879 in Landsberg an der Warthe geboren.Nach dem Besuch der Volksschule arbeitete sie nacheinander als Dienstmädchen, Fabrikarbeiterin, Krankenpflegerin und Schneiderin. 1906 trennte sie sich von ihrem Mann, dem Schneidermeister Bernhard Juchacz, und übersiedelte mit den beiden Kindern nach Berlin.
1908 trat Juchacz trat der SPD bei und wurde bald zu einer gefragten Versammlungsrednerin. Am 13. Dezember 1919 zählte sie zu den Gründerinnen der Arbeiterwohlfahrt (AWO) und war bis 1933 ihre erste Vorsitzende. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten zog Juchacz ins Saargebiet, 1935 ins Elsass, nach Beginn des Zweiten Weltkrieges über Paris nach Marseille und 1941 nach New York, wo sie bis 1949 lebte. Dort gründete sie 1945 die Arbeiterwohlfahrt USA – Hilfe für die Opfer des Nationalsozialismus. 1949 kehrte sie aus ihrem Exil nach Deutschland zurück und wurde Ehrenvorsitzende der AWO.
Als eine von 37 Frauen wurde Marie Juchacz 1919 in die Weimarer Nationalversammlung gewählt und sprach dort am 19. Februar 1919 als erste Parlamentarierin nach der Erlangung des Frauenwahlrechts: „Meine Herren und Damen! Es ist das erste Mal, dass eine Frau als Freie und Gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf, und ich möchte hier feststellen, ganz objektiv, dass es die Revolution gewesen ist, die auch in Deutschland die alten Vorurteile überwunden hat.“ Ihr Redebeitrag wurde nach den Aufzeichnungen der Parlamentsstenographen mehrmals mit „Heiterkeit“ seitens männlicher Abgeordneter kommentiert, d. h. ins Lächerliche gezogen.
Innerhalb der SPD warb Marie Juchacz wiederholt für mehr Einfluss von Frauen. Auf der SPD-Frauenkonferenz 1920 in Kassel kritisierte sie, dass „unsere sozialdemokratische Bewegung es nicht fertiggebracht hat, (…) an die Spitze eine Frau zu stellen, und zwar als Zeichen dafür, daß sie ein ungeheures Gewicht auf die Arbeit der Frau legt.“
Sie gehörte als einzige Frau dem „Ausschuss zur Vorberatung des Entwurfs einer Verfassung des Deutschen Reichs“ der Nationalversammlung an.Von den Reichstagswahlen 1920 bis 1933 war sie Mitglied des Reichstages. Ihre Schwester Elisabeth Röhl (1888 – 1930) und ihr Schwager Emil Kirschmann (1888 – 1949) waren ebenfalls SPD-Abgeordnete in der Nationalversammlung. Ihre wichtigsten politischen Anliegen galten den Themen Mutterschutz, Gleichstellung unverheirateter Mütter und unehelicher Kinder, Säuglings- und Kinderpflege, Volksgesundheit, Arbeitslosenfürsorge, Jugendpflege sowie Reform des Paragraphen 218.
1932 sprach Marie Juchacz angesichts der drohenden Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Reichstag die eindringlichen Worte: „Die Frauen (…) wollen keinen Bürgerkrieg, die Frauen wollen keinen Völkerkrieg, die Frauen wollen keine Verschärfung der Wirtschaftsnot durch innen- und außenpolitische Abenteuer. (…) Es ist genug des Elends! Es ist genug des Bluts! (…) Die Frauen müssen bei dieser Wahl, die für das Schicksal des deutschen Volkes entscheidend sein kann, auf viele Jahre hinaus, den Kampf annehmen, für Frieden und Freiheit, für Frauenrecht und Frauenwürde, gegen den Todfeind: den Faschismus.“
Marie Juchacz starb 1956. Zur Erinnerung an sie gibt es an dem von ihr zeitweilig bewohnten Haus in der Gitschiner Straße 110 in Kreuzberg eine Gedenktafel. In mehreren Städten, u. a. in Potsdam, wurden Straßen nach ihr benannt. 1969 und 2003 wurde sie mit einer Briefmarke geehrt. Im Reichstagsgebäude ist ein Sitzungssaal des SPD-Fraktionsvorstands nach ihr benannt. Die AWO vergibt seit 1969 die Marie-Juchacz-Plakette, und die SPD-Bundesfraktion verleiht jedes Jahr den Marie-Juchacz-Preis.
Seit 2017 existiert am Mehringplatz, wo sich bis 1933 die Zentrale der Arbeiterwohlfahrt befand, eine Gedenkplatte bestehend aus Stahlplatten mit den Worten „Freiheit“, „Gerechtigkeit“, „Gleichheit“, „Toleranz“ und „Solidarität“, dazu Lebensdaten und ein stilisiertes Porträt der Marie Juchacz.
Text und Foto: Norbert Peters