Das Vorhaben

Unsere Arbeitsgemeinschaft im Möckernkiez hat sich zum Ziel gesetzt, einen „Erinnerungsort“ zu entwickeln, der sich unmittelbar auf den „Ort, auf dem wir leben“ bezieht. Dieser Ort soll Aufmerksamkeit wecken, zum Nachdenken anregen, über den historischen Kontext informieren und zu interaktiver Beteiligung einladen. Wir reihen uns ein in die historische Verantwortung Berlins für antisemitische Verbrechen und schaffen einen erinnnerungskulturellen Bezug zu unserem Wohngelände. Mit dieser Arbeit machen wir deutlich, dass sich auch in unserem heutigen Wohnumfeld zeitgeschichtliche Spuren des NS-Regimes befinden. Damit werden die am Anhalter Bahnhof vorhandenen Gedenktafeln zu den Alterstransporten ergänzt.

Der Erinnerungsort

Das von uns präsentierte Objekt am Rande des Yorckplatzes ist ein „Weichenbock“, mit dem Gleise umgelegt wurden. Er trägt den Prägestempel „Firma Fr. Beyersmann Hagen, 1927“. Seit 1933 trat diese Firma mit Anträgen auf Wirtschaftsförderung an den NS-Staat in Erscheinung. Diese Förderung war ein Instrument, mit dem Hitler die Rüstungsindustrie wieder aufbauen und auf die Kriegswirtschaft vorbereiten wollte. Später gehörte die Firma zum Konsortium der Hoesch AG, die u. a. Rüstungsgüter produzierte und massenhaft Zwangsarbeiter einsetzte.

Von Juni 1942 bis März 1945 wurden am Anhalter Bahnhof 116-mal an reguläre Züge Waggons der 3. Klasse angehängt. Während die übrigen Zugreisenden zur Arbeit oder in den Urlaub unterwegs waren, endete die Fahrt für fast 10.000 Berliner Jüdinnen und Juden im Ghetto Theresienstadt. Auf diesen Zusammenhang weist unsere Infotafel neben dem Weichenbock hin:

Dieser Weichenbock gehörte zu den Gleisen des Anhalter Bahnhofs. Hier sind Weichen gestellt worden für fast 10.000 Jüdinnen und Juden aus Berlin. Die Nationalsozialisten haben sie von 1942 bis 1945 ins Ghetto Theresienstadt deportiert und später oft in das Vernichtungslager Auschwitz.

Unser Erinnerungsort ergänzt die am Rande des Gleisdreieckparks vorhandene Gedenkmeile aus dem Museum Flucht/Vertreibung/Versöhnung, dem geplanten Exilmuseum, dem Technikmuseum, dem „Storywalk“ im Gleisdreieckpark, dem Geschichtsparcours Yorckbrücken und den „Stolpersteinen“ für NS-Opfer im Umfeld unserer Wohngenossenschaft.

Unsere Initiative

Das Projekt „Anhalter Bahnhof. Gleis 1. Der Ort, auf dem wir leben.″ ist eine AG des Möckernkiez Vereins. Wir Bewohner:innen der Genossenschaft Möckernkiez in Kreuzberg verfolgen seit 2018 das Ziel, mit unserer Arbeit an die wechselvolle Geschichte des ehemaligen Anhalter Bahnhofs zu erinnern, insbesondere die Jahre, in denen er als Deportationsbahnhof diente.

Zum historischen Kontext

1933 begann das nationalsozialistische Regime mit der Ausgrenzung, Entrechtung, Verfolgung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung. Diejenigen, die Deutschland nicht rechtzeitig verlassen konnten oder wollten, wurden deportiert. Um das Deutsche Reich „judenfrei“ zu machen, bezeichnete die NS-Führung die ab Herbst 1941 reichsweit beginnenden Deportationen von Jüdinnen und Juden als „Umsiedlungen“ in die „Ostgebiete“. Seit Oktober 1941 war ihnen die Auswanderung gesetzlich untersagt. So wurden fast 50.000 Jüdinnen und Juden zwischen 1941 und 1945 aus Berlin in Ghettos im deutsch besetzten Mittel- und Osteuropa deportiert und fast alle ermordet. Der erste Deportationszug verließ das Gleis 17 des Bahnhofs Grunewald am 18. Oktober 1941. Für die Vorbereitung der Transporte richtete die Berliner Gestapo Sammellager ein. Diese befanden sich in mehreren Stadtteilen, existierten unterschiedlich lange und teilweise zu verschiedenen Zeitpunkten. Oftmals wurden hierfür Jüdische Altenheime genutzt, deren Bewohner:innen schon vorher deportiert wurden. Die Jüdinnen und Juden mussten ihren Besitz an den NS-Staat abtreten. Die Berliner Finanzbehörden schätzten das zurückgelassene Gut, beschlagnahmten und versteigerten es an Privatpersonen, die auf diese Weise günstig in den Besitz ihrer ehemaligen Nachbarn gelangten, wenn sie nicht schon vorher die verlassenen Wohnungen geplündert hatten, was gelegentlich vorkam. Die geräumten und versiegelten Wohnungen wurden dem Wohnungsmarkt zugeführt. Dabei hatte die Stadt Berlin die Verfügungsgewalt. Am Tag der Deportation wurden die zur Abreise vom Anhalter Bahnhof aus vorgesehenen Jüdinnen und Juden zwischen zwei und drei Uhr morgens geweckt und bekamen ein einfaches Frühstück, das von Angestellten der jüdischen Gemeinde zubereitet wurde. Gegen vier Uhr verließen sie das Gebäude in der Großen Hamburger Straße. Sie mussten zu Fuß einige hundert Meter zum Monbijouplatz marschieren, wo ein Straßenbahnwagen der Berliner Verkehrsbetriebe bereitstand. Gegen 5 Uhr 15 trafen sie am Anhalter Bahnhof in der Schöneberger Straße ein. Durch einen Seiteneingang wurden sie zu Gleis 1 gebracht und mussten in Waggons der dritten Klasse einsteigen. Diese Waggons wurden an einen fahrplanmäßigen Personenzug angehängt, der um 6 Uhr 07 in Richtung Dresden fuhr. Dann wurden die Waggons an einen anderen fahrplanmäßigen Zug nach Prag angekoppelt. Die Route führte die Elbe entlang nach Bohusovice (Bauschowitz). Die Deportierten mussten am Bahnhof Bohusovice aussteigen und wurden dort von SS-Personal und der tschechischen Gendarmerie erwartet. Anschließend wurden sie gezwungen, mit ihrem Gepäck die ca. drei Kilometer nach Theresienstadt zu marschieren. Nicht Gehfähige wurden mit Lastwagen ins Ghetto transportiert. Viele der älteren deutschen Juden hatten sogenannte Heimeinkaufsverträge abgeschlossen und nicht unerhebliche Beträge, manchmal ihr gesamtes Vermögen, an den deutschen Staat abgegeben, um einen Platz in einem der „Altenwohn- und Pflegeheime“ zu bekommen. Sie hofften damit den Transporten in den Osten zu entgehen. Erst in Theresienstadt erkannten sie, dass sie betrogen worden waren. Insgesamt wurden etwa 140.000 Männer, Frauen und Kinder in das Theresienstädter Ghetto deportiert. Während der letzten Kriegstage wurden noch einmal 13.000 weitere Gefangene aus den aufgegebenen Konzentrationslagern in Deutschland und Polen nach Theresienstadt geschickt. Die meisten Internierten kam aus Böhmen und Mähren (ca. 74.000 Menschen) und dem Deutschen Reich (ca. 43.000). Ein Viertel der Gefangenen des Ghettos Theresienstadt (über 33.000) starben dort vor allem wegen der unerträglichen Lebensumstände. Mehr als 88.000 Häftlinge wurden in Vernichtungslager deportiert.

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