Charlotte Jolles – Großbeerenstr.82

Im Umfeld unserer Möckernkiez-Genossenschaft lebten in früheren Zeiten namhafte Persönlichkeiten, an die erinnert werden sollte. Zu ihnen gehört Charlotte Jolles.

Charlotte Jolles – Promotionsurkunde mit 78 Jahren

An der Hauswand der Großbeerenstraße 82 befindet sich eine Gedenktafel für eine Frau mit einer außergewöhnlichen akademischen Laufbahn. Mit Charlotte Jolles wird hier eine Wissenschaftlerin geehrt, die „ein Leben für Fontane gelebt“ hat (Die Welt, 7.1.2004). Ihre Dissertation mit dem Titel „Fontane und die Politik“ wurde erst ein halbes Jahrhundert nach ihrer Entstehung als Buchdruck veröffentlicht, „ein Glanzstück, ein Durchbruch zu neuen Fontane-Forschungsufern“, so der Stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Theodor Fontane Gesellschaft Potsdam, Prof. Dr. Roland Berbig.

Geboren am 5. Oktober 1909 wuchs sie in gutbürgerlichen Verhältnissen in der Großbeerenstraße auf, als Tochter eines jüdischen Bauingenieurs. In Jugendgruppen mit Verbindungen zu internationalen pazifistischen Organisationen bereiste sie das Land rings um Berlin – die Mark, von Fontane in vielen seiner Romane und Wanderungen beschrieben.

Charlotte Jolles studierte an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität Germanistik, Geschichte, Philosophie und Pädagogik, weigerte sich jedoch 1937, am akademischen Promotionsfestakt teilzunehmen und ihre Urkunde zu empfangen, nachdem man ihr signalisiert hatte, der Rektor werde ihr den Handschlag verweigern.

Nach dem Tod ihres Vaters, den sie bis zuletzt pflegte, floh sie Anfang 1939 über Amsterdam nach London, „mit zehn Reichsmark und einer Reiseschreibmaschine im Gepäck“. In einem privaten Heim für elternlose Flüchtlingskinder aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei fand sie in England Arbeit als Sekretärin, unterrichtete nebenher als Lehrerin an einer Grammar School und begann ein zweites Studium. „Wir saßen in zerbombten Gebäuden, meist ohne Fenster, und lasen Walther von der Vogelweide!“

Viele Jahrzehnte war sie als Professorin an der Universität London tätig. Durch ihre Arbeiten und Editionen erwarb sie sich den Ruf, „die große alte Dame der Fontane-Forschung“ zu sein. In der Ära des Kalten Krieges verkehrte sie von England aus in westdeutschen Fontane-Verlagen ebenso selbstverständlich wie im Potsdamer Theodor-Fontane-Archiv. Sie wirkte federführend an den großen Fontane-Briefeditionen mit, gab den England-Band in der Nymphenburger Fontane-Ausgabe heraus und wurde so die „Nestorin“, die „Doyenne“ der Fontane-Forschung. „Alles, was sie schrieb, und sie hat über die Jahre Wegweisendes zu vielen Facetten des Dichters und seines Werkes geschrieben, atmet dieselbe Klarheit – und eine Liebe, die hellsichtig macht.“ (Die Welt) 1945 wurde sie britische Staatsbürgerin.

Die Humboldt-Universität zu Berlin verlieh Charlotte Jolles 1987 die Ehrendoktorwürde. Sie erhielt darüber hinaus viele weitere Auszeichnungen: Ehrenpräsidentin der Theodor Fontane Gesellschaft Potsdam, Bundesverdienstkreuz I. Klasse, Fontane-Preis für Literatur der Stadt Neuruppin.

Charlotte Jolles starb am 31. Dezember 2003 in London, einen Tag nach Theodor Fontanes Geburtstag. „Es hätte sich nicht gehört, an Fontanes Geburtstag zu sterben“, so Professor Berbig bei der Enthüllung ihrer Gedenktafel in der Großbeerenstraße.

Norbert Peters